Die Gretchenfrage: Was ist eigentlich ein gutes Manuskript?

Manuskript, Lektorat, Roman, Verlag, Agent

Schon die Überschrift zu tippen, hat eine Menge Zeit und Hirnzellen gekostet. Muss es jetzt heißen »gutes Manuskript«? Oder sollte ich lieber fragen: »Was macht ein Manuskript zu einem Bestseller?« Oder etwas expliziter: »Was sind die Kriterien für gute (oder schlechte) Manuskripte?« Oder geht es eigentlich darum, wie Verlage und Agenturen Manuskripte bewerten? Wer eigentlich über Qualität entscheidet? Stimmt alles ein bisschen, also fangen wir mal an.

Und damit wäre dieser Text auch schon wieder zu Ende, denn die ehrliche Antwort muss heißen: Keine Ahnung. Da wir ja so aber nicht weiterkommen, begründe ich erst mal. 

(Kürzlich las ich, dass beinahe jede Autor:in von den Leser:innen gefragt wird, woher die Geschichte des fraglichen Buches kommt und ob sie sie selbst erlebt hätte. Und dass beinahe jede Autor:in diese Frage ungern beantwortet. Vielleicht ist die Frage nach dem guten Manuskript diejenige, die jede Lektor:in fürchtet.)

Lesen ist nie nur ein Job, dennoch wird man wie bei allem, was man häufig übt, besser und schneller. Im vorliegenden Fall: einzuschätzen, ob ein Manuskript gut ist. Wahrscheinlich bin ich sogar schneller, als ich es mir selbst zutraue, denn selten habe ich das Lesegefühl der ersten Sätze nach zwanzig weiteren Seiten revidieren müssen. Genauso stimmt aber, dass ich immer schlechter einschätzen kann, was gut ist. Wie oft fand am Ende nur ich allein etwas großartig, bin dafür mit Hermesschuhen in den Verlag gedüst, habe Telefondrähte zum Glühen gebracht oder meine Tastatur kaputtgehämmert.

(Gerade trockne ich die letzten Tränen, die ich um einen Autor weine, den ich beinahe ein Dreivierteljahr beim Schreiben begleitet habe und für dessen Text ich den einen richtigen Verlag im Kopf hatte. Dort wurde sein Manuskript nun als ein sehr gutes, vielversprechendes, aber kein ausreichend gutes Manuskript beurteilt. Aua.)

Ich bin froh, dass der Mann in meinem Leben kein Literaturmensch ist; ich könnte es schlicht nicht aushalten, wenn er meine stetig wechselnden, doch jedes Mal mit gleicher Inbrunst gelebten Lieben nicht ebenso begeistert begrüßt wie ich. Wenn allerdings meine Mutter mir ein Buch zurückgibt mit der Bemerkung, das sei nichts für sie gewesen, fühle ich mich inzwischen in Bestsellerlaune.

Hä? 

Ich gebe zu, ich eiere herum. Das liegt daran, dass ich so gern darüber erzähle, wofür mein Herze glüht. Und es ist leicht zu durchschauende Prokrastinationstaktik, während ich überlege, ob ich mich wirklich so weit aus dem Fenster lehnen soll, meine persönlichen Kriterien für ein gutes Manuskript öffentlich anzugeben und zum Nachlesen hier hinzuposten, oder ob ich nicht jetzt das mitteilungsfreudige Tierchen in mir zurück ins Körbchen bringe und mir eingestehe, dass das einfach keine gute Idee für einen Blogbeitrag war.

Na? 

Bin immer noch nicht überzeugt, aber machen wir mal weiter, dann sehen wir's gleich.

Stimme

Ein Text muss eine Stimme haben. Die muss nicht laut sein, nicht krass, nicht aufsehenerregend (wobei sie all das sein kann), aber eigen muss sie sein, besonders, nicht gewöhnlich und – Achtung Unwort – authentisch. Sie darf aber alles das auch nicht sein und sich der Geschichte, dem Erzählten unterordnen, es transportieren und fließen lassen.

Plot

Mah, tut mir leid, aber nur Stimme reicht nicht. Der Pfau muss ja auch ran, nachdem er sein schönes Rad geschlagen hat. Vollkommen anachronistisch bin ich ein Fan von gut gebauten Plots, von Geschichten, die mich wo hin führen, in die ich eintauchen kann, aus denen ich dann aber auch wieder auftauchen kann und meine Leseseele satt und zufrieden im Sessel vor sich hin rülpst.

Figuren

Ha, gibt es das eigentlich? Einen Roman ganz ohne Figuren? Ich leide oft mit der Waschmaschine, wenn sie sich beim Schleudern so anstrengen muss, aber beim Lesen sind mir Menschen aus Fleisch und Blut lieber. Das große sich Identifizieren hilft beim Einlassen auf die literarische Welt, dabei, sich ergriffen und angegriffen zu fühlen; der ganze Gefühlskram, die Erschütterungen, die kommen aus der größeren oder kleineren Distanz, die wir zu den Figuren eines Romans spüren. Ich behaupte, fast jede:r hat ein Bild vor Augen, wenn er so einer Figur auf den ersten Seiten begegnet, selten ähnelt dieses Bild dem einer anderen Leser:in, so gut wie nie sah die Romanfigur so aus, wie sie im Film plötzlich vor einem steht.

 Puh.

Das sind mal die großen drei, meinetwegen das Dreieck, zwischen dessen stabilen Verbindungen der Roman Raum greift. (Beinahe zitierfähig!) Meine persönlichen Jubelmomente bei der Lektüre:

Dialoge

Ai, ai, ai. Kürzlich habe ich ein Manuskript lektoriert, das sich fast ausschließlich in Dialogen fortbewegte. Himmel, manche Leute wollen es sich (und ihrer Lektorin) schwer machen. Dabei ist es für alle, auch die Leser:in, so viel schöner, wenn man sich zwischendrin mal auf einer hübsch beschriebenen Wiese ausruhen kann. Gern mit Ausblick. Oberstes Gebot beim Schreiben: Lasst die Handlung raus aus den Dialogen und lest euch eure Dialoge laut vor. Redet man so? Redet die Figur so? Ein brillanter Lehrmeister ist der amerikanische Autor Dennis Lehane.

Enden

Entscheiden für mich über Leben und Tod eines Buches. Einzige Ausnahme: Nino Haratischwilis »Brilka«, das ich atemlos gelesen habe, unter anderem um herauszufinden, was denn nun die Klammer ist, warum sie diese Geschichte, wie angekündigt, unbedingt erzählen muss. Ich spoilere nicht, aber ich war sauer, dass ich über 1000 Seiten für diese Auflösung lesen sollte. Da das Buch aber zwischen Anfang und Ende unglaublich gut ist, gehört es trotzdem zu meinen All Timern.

 

Konkretismus (heißt das so?)

Nein, wirklich. Wenn ich beim Lesen das Gefühl habe, es seien zwischendrin Szenen oder Seiten verloren gegangen, weil ich einfach nicht mitkomme, ich ständig zurückblättern will, um zu sehen, wo ich was überlesen habe, und mir vor Geraune und Andeutungen schon ganz schwummrig wird, dann steige ich aus. Nichts gegen unterschwellige Spannung oder Geheimnisvolles, gegen Leerstellen zum Ausdeuten (malen nach Zahlen fand ich damals genial), im Gegenteil. Aber gebt mir was zum Festhalten. Danke.

 

Okay soweit

ABER, und dieses Aber ist absichtlich groß geschrieben, ich bin nicht das Maß der Dinge. Ich habe eine Meinung, eine gewisse Erfahrung. Denn so, wie jede:r ein anderes Lieblingsbuch hat (aber manche eben doch das Gleiche), so ist auch eine Lektor:in nur Leser:in, die einen Geschmack und eine Lesegeschichte hat. Aber mit einem dritten Auge (oder so). Als professionelle Leserin tritt man hinter seinen Geschmack zurück und kann einschätzen: Ich bin nicht die Zielgruppe/ich mag keine Dystopien/Bücher, in denen die Hauptfigur Thorsten heißt, gehen nicht, weil heutzutage keiner mehr Thorsten heißt/…, ABER (schon wieder ein großes Aber, schon wieder eine Klammer), es ist trotzdem ein gutes Manuskript. Viel besser, wie Pflaumenkuchen mit Schlagsahne, ist es natürlich, wenn Qualität und Geschmack zusammenkommen. Dann gibt es kein Halten mehr und ich werde Jeanne d'Arc.

 Aufgepasst

Und es sind nicht nur die Lektor:innen und Agent:innen, die darüber reden, ob und warum Manuskripte gut oder schlecht sind. Aber sie tun es eben als Erste, bevor ein Buch auf die Welt kommt. Ist es da, wandert die Hoheit über die Qualität eines Textes weiter an Blogger:innen, Literaturvermittler:innen, Jury – wie gendert man das? – mitglieder, Journalist:innen, Kritiker:innen und natürlich an die Leser:innen, die dank Social Media schon länger einen viel direkteren Draht zu den Autor:innen und in die Ohren der Verlage haben.

Bleiben wir bei Lektor:innen und Agent:innen. Ihre professionelle Sichtweise unterscheidet sich von der Perspektive derjenigen, die zum (reinen) Vergnügen lesen. Als Lektor:in und Agent:in hat man Verlagsprofile, zu besetzende Programmplätze und Konkurrenzautor:innen im Kopf und probiert beim Lesen schon mal, ob sich das gut pitchen lässt. Immer tastet man sich die Zeilen entlang mit der bangen Hoffnung: »Ist das was?« – »Könnte das passen?« – »Wo könnte das passen?« – »Wem kann ich das anbieten?« – »Wo ist die Autor:in, wo ist dieser Text gut aufgehoben?« Naturgemäß haben wir einen suchtartigen Lesekonsum, den wir manuskripthäppchenweise füttern, so dass uns vieles auf literarische Weise schon begegnet ist. Vielleicht ähneln wir leidenschaftlichen Essern, die ständig auf der Suche nach etwas Neuem, Aufregendem sind, aber zwischendrin mit einem Butterbrot dankbar den Tag beschließen.

Und jetzt?

Wir wissen, dass wir nichts wissen. (Leider nicht von mir.) Ziemlich sicher aber haben einige Bücher, sogenannte »große Bestseller«, einen oder mehrere gemeinsame Nenner, weshalb sie von so vielen Menschen als Bereicherung empfunden werden. Doch für mich gibt es die eine gültige Checkliste nicht, die man nur abhaken muss, um zu wissen, ob man es mit einem guten oder einem nicht so guten Manuskript zu tun hat. (Die schlechten springen einem mit Anlauf ins Gesicht.) Ein Text, dessen Sprache funkelt und leuchtet, der uns mit seinem Plot bis zur letzten Seite am Nasenring führt und der dazu noch weltklasse Personal hat (und von mir aus auch noch gute Dialoge und ein effektvolles Ende), ist eben manchmal trotzdem nüscht. Warum? Keine Ahnung. Da haben wir es wieder.

 

Weil es nicht zündet. Weil es mich nichts angeht. Weil ich mich nicht wohl fühle darin. Weil ich keine Lust habe weiterzulesen. Weil mich irgendwas daran abstößt wie der weiße den schwarzen Magnethund. Weil es nicht abhebt. Weil alles richtig ist. Weil alles falsch ist, obwohl es richtig ist.

Und wenn es mir so geht, geht es auch anderen so. Um den Enthusiasmus und die Leidenschaft aufzubringen, einem Manuskript zur Publikation zu verhelfen, braucht es einen langen Atem und keinen Deut Zweifel.

Ihr seht schon, besser, oder sagen wir, einsichtiger wird das hier nicht mehr. Deshalb bekommt mein Text jetzt ein vollkommen unbefriedigendes Ende und ich gebe ihn ins Lektorat zur Prüfung und dann sehen wir mal, ob es einen Artikel gibt oder nicht.

 

(Scheint geklappt zu haben.)

 

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